Es ist Freitag der 13. und es beginnt bei mir mit einem leichten Brummen und Stechen in der Magen- Darmregion, die Toilette ruft nur Sekunden später laut meinen Namen. Nico hält noch 48 Stunden länger durch, dann hat auch er den Rhythmus zwischen WC und Bett inne. Die nächsten 5 Tage verlassen wir das Zimmer höchstens, um Bananen, Cola, Toilettenpapier oder trockene Kekse zu organisieren. Durchfall, Fieber und die dazugehörige Krämpfe, irgendwie musste dies in Indien ja kommen – aber muss das so gnadenlos, arglistig und krampfhaft sein? Es ist die Hölle! So sind wir also zwangsgestrandet in unserem Hostel in Agra, immerhin haben wir einen traumhaften Blick auf das Taj Mahal. Ob wir mehr Zeit im Bett oder auf der Toilette verbringen, wissen wir nicht mehr, irgendwann kennen wir jede Kachel auf dem WC persönlich.
Am 5. Leidenstag entscheiden wir uns dennoch weiterzufahren. Der Durchfall hält sich zwar weiterhin hartnäckig, aber die Kontrolle über unsere Reise soll dieser nicht übernehmen. Durch unseren eigenen schlechten Gesundheitszustand nehmen wir Gerüche, Geräusche und die immer desolater werdende humanitäre Lage im Land besonderes intensiv auf. Was die nächsten Tage und Wochen auf uns zukommen soll, nimmt uns mit – Indien wird etliche Stufen einfacher und vor allem dreckiger. Spätestens hinter Agra sacken die hygienischen Verhältnisse nochmals kräftig ab und erreichen eine Dimension, wie wir sie auf all unseren Reisen und damit in 71 bereisten Ländern noch nicht erlebt haben. Unser Besuch im Fort Gwalior ist noch eine entspannte Ausnahme, diese gigantische Festungsanlage mit all ihren Palästen, Tempeln und riesigen Statuen hat ihre Anfänge im 7. Jahrhundert und ist den Anstieg wert, sehr beeindruckend.
Die Menschen hausen in den einfachsten Hütten und leben im wahrsten Sinne des Wortes im Dreck und im Müll. Der süß- säuerliche Geruch von Müll liegt in der Luft und lässt keinen tiefen Atemzug zu, unsere Augen sehen Elend und Leid, es schmerzt. Es wird zu einem Kapitel, welches uns psychisch sehr mitnimmt.
Wir haben uns entschieden einmal quer durch das Land zu radeln bis an den Golf von Bengalen, Ziel ist die Küstenstadt Chennai. Wir wollen Indien erleben, spüren und erfahren und eben nicht ein gefälschtes Bild von einem touristischen Hotspot an irgendeinem tropischen Strand mit Cocktail in der Hand wiedergeben. Es geht durch das Herz Indiens und in diesem rumort es mehr, wie in unserem Magen- Darmtrakt. Müll, Unrat, Exkremente und eine bettelarme Bevölkerung begleiten uns durchs Land. Die Menschen werfen jede Verpackung, jede Flasche, einfach alles gedankenverloren und ohne jegliches Bewusstsein und Respekt gegenüber der Natur und kommenden Generationen in die Büsche, Felder oder Bäche. Egal welche Generation, egal welche Kaste – die Chips, die Kekse, der Saft oder das Shampoopäckchen etc., alles wird aufgerissen und ohne zu zögern aus dem Auto, vom Fahrrad oder aus der Bahn geworfen. Nein, wir wollen hier nicht Indien anklagen und mit erhobenen Zeigefinger den Lehrer aus einer besseren Welt spielen – vielmehr stellen wir uns die Frage: Was machen wir Menschen mit unserem Planeten? Sind wir wirklich so dumm? Leben im 20./21. Jahrhundert wirklich die primitivsten Menschen, die dümmsten Generationen, die dieser Planet jemals ertragen musste? Die Menschen hier, in den abgelegensten Regionen Indiens – ohne großen Zugang zu Bildungsinstituten etc. baden unseren Konsum, unsere ja so fortschrittlichen Lebensweg aus. Wir alle leben auf nur einem Planeten, nur haben wir das Glück, an einem anderen Ort, in einem anderen System mit anderen Gegebenheiten leben zu dürfen. Wir sind eine Seuche für unseren Planeten.
Aber nicht nur die Menschen leiden, auch die Tiere haben in Indien einen harten Stand. Kühe, Hunde, Schweine und Hühner fressen unseren Müll, es ist ein unfassbarer Ekel, der uns kalt über den Rücken läuft. Menschen verrichten ihr Geschäft direkt vor ihrer Haustüre, Restaurants und Unterkünfte haben keine Toiletten und schicken uns in die Gärten, um zu kacken. Unser Durchfall hält sich weiterhin, mittlerweile wundert uns dies allerdings nicht mehr, dass sich hier Bakterien, Keime und Viren wohlfühlen, liegt auf der Hand. 2 – 3 Mal am Tag setzt der Regen ein und es schüttet wie aus Eimern. Die Straßen werden zu Bächen und spülen den Müll und die Exkremente in den nächsten Fluss. Die Menschen strahlen uns danach an und sagen feierlich „Seht her, Indien reinigt sich von selbst!“. Bis ein Bewusstsein für diese Problematik in den Köpfen der Landbevölkerung ankommt, dauert es wohl noch ein paar Jahrzehnte – leider wird es dann wohl schon zu spät sein. Schon jetzt scheinen die Füße und Seen, an den wir vorbeikommen, wie eine tote flüssige Masse zu sein, das Wildlife ist größtenteils ausgerottet und die Menschheit komplett aus dem Gleichgewicht.
Der 2. Abschnitt in Indien zeigt ein ganz anderes Bild von Land und Leuten, wie Teil 1 von der pakistanischen Grenze bis nach Agra. Wir treffen auf keinen Touristen mehr, die Menschen sind in ihrer Region scheinbar keine oder nur sehr wenige Fremden gewöhnt und reagieren dementsprechend neugierig. Es vergehen keine 2 Minuten ohne Selfie-Wunsch, die Menschen, auch hier spielt das Alter keine Rolle, jagen uns wie Tiere mit ihren Smartphones. Überall sind Menschen, immer und zu jeder Tageszeit. Wir werden beobachten und belagert, mit Durchfall alleine hinter die Büsche? Vergiss es! 2 Minuten verschnaufen? Nicht mit Indern! Wir verstehen die Bevölkerung und wollen nicht arrogant den Leuten gegenüber sein, aber ein Leben komplett ohne Privatsphäre kratzt an den Nerven und macht mürbe. Auf der anderen Seite versuchen wir die Menschen zu verstehen, mit 10 Geschwistern auf engstem Raum aufwachsen, da hast du eben keine Privatsphäre. Das Smartphone samt „Selfie-Funktion“ gibt es vielleicht seit 5-8 Jahre flächendeckend in den Provinzen Indiens, von der Zeit vor 2012 gibt es schlicht keine Bilder der Menschen – dies wird nun nachgeholt und wir sind ein gefundenes Fressen und werden mit zahllosen Kameras eingefangen. Wir sind die Daily Soap – das Reality TV, teilweise tuckern mehrere Mopeds 30 Minuten hinter uns her und die Fahrer samt Sozius starren uns einfach nur an und knipsen ungefragt drauflos- man könnte beinahe Angst bekommen.
Die Kunst des „Kopfwackelns“ ist in ganz Indien sehr verbreitet und kann quasi alles bedeuten. Wackelt ein Inder mit seinem Kopf von einer auf die andere Seite, kann dies „ja“, „danke“, „Hallo“, „Ciao“, „Passt schon“, „“nein“ bedeuten. Uns treibt es beinahe in den Wahnsinn, da man nie weiß woran man jetzt ist. Fragt man die Menschen hier nach dem Weg oder nach einer Unterkunft, bekommt man zwar stets eine Antwort. Nur diese Antwort kann der größte Schwachsinn sein – Hauptsache es wurde was gesagt – da wirst du auf eine harte Probe gestellt.
Eine schöne Gemeinsamkeit mit Indien ist unsere Liebe zum Fahrrad – Fahrräder gehören unwiderruflich zum Straßenbild. Schulkinder düsen zur Schule, Frauen auf den Markt, Männer strampeln auf die Felder und bringen mit dem Rad die Ernte heim. Auch wir lieben unsere Räder und geben diesen eine gründliche Reinigung, erledigen kleinere Wartungsarbeiten an unseren Velotraum-Rädern, welche sich bislang als die Zuverlässigkeit in Person zeigen.
Durch die regelmäßigen Regengüsse ist es erschlagend schwül und uns zieht es weiterhin in kleine Unterkünfte. An zelten ist schlicht nicht zu denken, jeder Regenschauer setzt das Land 10cm unter Wasser und die Bevölkerung nimmt eh jede freie Fläche für sich ein. So landen wir häufig aber eher ungewollt in so genannten „Bum-Bum“- Unterkünften – auf deutsch ins Stundenhotel. Auch Inder müssen sich ihre Privatsphäre erkaufen – in einer vollbesetzten Hütte lässt es sich einfach nicht so ungeniert mit der Liebsten schmusen. Nebenan wird also geschmust und wir erholen uns vom anstrengenden Radtag – falls nicht gerade der Strom ausfällt, rattert ein alter Ventilator über uns, einfacher Luxus im Herzen Indiens.
Am nächsten Tag beginnt das Spiel auf den Straßen Indiens auf ein Neues. Die Devise lautet: Lücke finden, Lücke stur verteidigen und Ellenbogen ausfahren. Indische Verkehrsteilnehmer sind egoistisch und drängeln für ihr Leben gerne – harte Sitten auf diversen Straßen dieser Welt sind wir allerdings gewöhnt und schlagen uns irgendwie durch. Nicht neu, aber definitiv eine neue Stufe, ist das Hup-Verhalten der Inder. Als unser Hund Alecco irgendwann sehr altersschwach wurde und das Seh- und Hörvermögen rapide nachließ, bellte er ständig irgendwelche imaginären Geister und Gefahren an. Ähnlich verhält es sich auf den Straßen Indiens, es wird wahllos drauflos gehupt, dazu muss keine Gefahr, kein anderer Verkehrsteilnehmer oder sonst ein Hindernis vorhanden sein. Es ist laut auf Indiens Straßen, sehr laut, am Abend klingeln uns die Ohren und wir wollen nur noch eins: Ruhe!
Am Tag 150 feiern Nico und ich meinen 37. Geburtstag, abgeschottet in einer kleinen Unterkunft in der Pampa Indiens, der Durchfall feiert selbstverständlich auch mit – einen großen Topf Pasta pur gönnen wir uns trotzdem – vielleicht helfen diese ja aus der Krankheit. Mein Geburtstagswunsch: Ein trockener Furz wäre ein schönes Zeichen.
Die Pasta hatte jedenfalls nicht geholfen, langsam sind wir mit unserem Latein am Ende. Allerdings scheinen nicht nur wir Durchfall geplagt, sondern auch der Himmel ist nicht ganz dicht. Diese Regenmaßen sind einerseits total surreal – da innerhalb von Sekunden ganze Seenlandschaften entstehen, auf der anderen Seite sehr nervig – da wir und das Equipment komplett durchweicht werden und wir kaum vorwärts kommen.
Eine Lanze müssen wir allerdings für die indischen Straßen brechen, die nationalen Highways sind, bis auf wenige Ausnahmen, erstaunlich gut ausgebaut. Diese dürfen aber auch nicht verlassen werden, auf den Nebenstraßen fährt man mehr Slalom, wie im Skigebiet, nur hier sind es Pfützen, Schlaglöchern und diversen anderen Hindernissen und keine aufgestellte Stangen. So freuen wir uns an Tag 146 über die 9.000 Kilometer und feiern diese auf der Straße mit Bananen – andere Nahrung lässt unser Körper nach wie vor nicht zu.
Wir durchqueren kurz vor Nagpur den „Pench Nationalpark“ und den „Bhander Range Forest“ – hier lebt der Tiger. Zwar bekommen wir die riesige Raubkatze nicht zu Gesicht, aber ein leicht mulmiges Gefühl begleitet uns durch dieses tropische Dschungelgebiet. Immerhin schnurrt unser Fahrrad, insbesondere das Pinion P.1.18 Getriebe zuverlässig und zufrieden wie ein kleiner Tiger vor sich hin und bringt uns jeden Tag eine Stückchen näher in Richtung Tokio 2020. Das weltberühmte Dschungelbuch soll hier übrigens seine Inspiration gefunden haben – Mowgli, Kaa, Bagheera, King Louie und natürlich Baloo der Bär lassen grüßen. Wir lassen uns von „Probier’s mal mit Gemütlichkeit“ anstecken und stellen in Nagpur für zwei Tage die Räder ab und schalten in den Entspannungsmodus.
Noch ist unser nächstes Ziel Chennai und damit der Ozean knapp 1200 Kilometer entfernt, von dort wollen wir auf die Andamanen und Nikobaren. 2 Wochen relaxen mit unseren Liebsten, welche aus der Heimat anreisen, steht auf dem Plan. Manchmal sind wir halt doch klassische Touristen mit einem Cocktail in der Hand an einem exotischen Strand – dies müssen wir uns allerdings hart erarbeiten. Wir können es kaum erwarten und hoffen auf einen friedlichen Magen – ganz ohne Rumoren.
Eure Pasta-Gorillas
Julian und Nico
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