Und plötzlich sind sie weg, wie ausgelöscht, beinahe mysteriös kommt es uns vor, ganz glauben können wir es erst nach mehreren Tagen. Von Istanbul bis Samsun reihte sich ein Höhenmeter an den Anderen und nun? Es geht bis zum Horizont topfeben dahin, sie sind weg, die Berge! Über diese temporäre Gegebenheit freuen wir uns wie die Kinder über ein Eis im Freibad. Als dann sogar der Wind noch dreht und fleissig von hinten schiebt sind wir glückselig. Zugegeben wir helfen unserem Glück auch etwas auf die Sprünge, wir durchradeln zahlreiche langgezogene Tunnel und umgehen so gekonnt einigen massiven Klippen und Bergausläufern die bis ins Schwarze Meer ragen.
Links glitzert das Meer, rechts geht es steil die Berge hoch und wir schlängeln uns, wie eine gefräßige Raupe, auf der Küstenstrasse entlang und geniessen die flachen Etappen. Die Beine schalten auf Autopilot, der Geist ist hellwach und aufnahmebereit. Eine Haselnussplantage reiht sich an die Nächste, die Region um Samsun ist weltberühmt für die „Besten Haselnüsse der Welt“, so berichten uns zumindest die stolzen Einheimischen.
Die zahlreichen Kleinstädte die wir passieren sind wenig attraktiv, lieblose Hochhäuser und Bauruinen prägen das Bild. Diese Städte scheinen explosionsartig gebaut worden zu sein, von türkischer Baukunst und alter Tradition ist hier wenig zu spüren. Der Stadtverkehr ist laut, stickig und nervig, ständig wird gehupt und wir sind waghalsigen Überholmanövern ausgesetzt. Fahrradfahrer passen wohl weder ins Verkehrs- noch ins Weltbild türkischer Autofahrer und Straßenplaner. Es kommt wie es kommen musste, ein Busfahrer übersieht beim Linksabbiegen Felix, dieser wird in den Straßengraben geschoben. Glück im Unglück, Felix kommt mit dem Schrecken und das Rad mit ein paar Schrammen davon. Ganz so glimpflich geht es für den Fahrer nicht aus. Gleich 3 „Gorillas“ schreien lautstark in verschiedensten Sprachen auf den Mann ein, hauen auf die Motorhaube, erklären ihm den Sinn von Aussenspiegeln und klopfen ihm auf den Hinterkopf. Der Verkehr kommt kurzfristig zum erliegen, erst als wir unserer Wut genügend Luft gemacht haben, lassen wir den, sichtlich eingeschüchterten, Fahrer samt seinen Fahrgästen weiterrollen.
Sehr exklusive Zeltplätze direkt am Meer und entspannte Mittagspausen in der Hängematte lassen unseren Ärger über unbelehrbare Autofahrer immer wieder schnell vergessen. Trotzdem kommt es zwischendurch zu einer weiteren großen Explosion. Dieses Mal ist kein Verkehrsteilnehmer und kein Aussenstehender involviert. Nein, wir machen und am Straßenrand Luft und werfen uns 30 Minuten alles an den Kopf, was sich so (wie im letzten Blog angedeutet) angestaut hat. War gut, tat gut und musste so kommen. Jedenfalls glätten sich die Tage danach die Wogen und bestimmte Dinge scheinen sich neu geordnet und eingerenkt zu haben. Wir sind jedenfalls zuversichtlich, dass der Frieden nun von Dauer ist, aber eine Garantie gibt es da selbst bei der eingeschworensten Gorilla-Sippe nicht.
Natürlich sind auch auf dieser Etappe wieder die Menschen das Salz in der Suppe, so radeln wir 2 Tage mit Sam aus New York, 2 türkische Jungs radeln ebenfalls kurz mit, Tim aus der Schweiz möchte in die Mongolei radeln, Abdusch aus Saudi-Arabien bis nach Tiflis. Wir werden von Aki und Britta auf ne Pide eingeladen, hier und da bekommen wir Obst geschenkt und dürfen vor den Tavernen direkt am Strand zelten, die Menschen in der Türkei haben einfach ein riesiges Herz, es ist uns ein Fest.
In Tabzon angekommen kümmern wir uns intensiv um verschiedene und nervige Visa-Angelegenheiten, lassen uns durch die turbulenten Gassen treiben und schlemmen uns durch die türkischen Kochtöpfe. Die Türkei neigt sich langsam dem Ende zu, daher entscheiden wir uns in Trabzon für einen Besuch im traditionellen Hamam. Alter Falter, wir werden vermöbelt wie ein Boxer kurz vor dem technischen KO, jeder Holzfäller kann hier in die Lehre gehen. Die Jungs könnten auch auf der Hamburger Reeperbahn als Rauswerfer arbeiten, die muskuläre Entspannung stellt sich mit etwas Zeitverzögerung dennoch ein.
Nach der Haselnuss kommt der Tee. So weit das Auge blicken kann wird nun Tee angebaut, das größte Teeanbaugebiet der Türkei begleitet uns bis an die Grenze Georgiens. Wir verabschieden die Türkei mit einem Rekordtag, geschlagene 132 Kilometer brennen wir am letzen Tag in den türkischen Asphalt. Danach stehen wir an der georgischen Grenze und begrüßen Land Nummer 10. Danke Türkei, ihr wart großartige und liebevolle Gastgeber.
Der Grenzübertritt verläuft fix, frech drängeln wir uns an der enormen LKW- und Autoschlange vorbei und sind so in wenigen Minuten abgefertigt, Vorteil Fahrrad. Vom ersten Moment an wirken die Menschen in Georgien ernster, wir werden misstrauisch beäugt und oft ignoriert. Der einsetzende Regen passt irgendwie zur mürrischen Grundstimmung, Donner und Blitz runden den ersten Eindruck sinnbildlich ab. Mit der Küstenstadt Batumi sind wir am Ende des Schwarzen Meers angekommen, am Ende des Horizontes. Vor knapp 4 Wochen im bulgarischen Burgas hatten wir noch strake Zweifel, ob wir Tiflis rechtzeitig erreichen um dort unser Iran-Visa zu bekommen, jetzt ist die Hauptstadt Georgiens und unser Etappenziel zum greifen nahe. Wir treffen Bodo und Heike, die zwei sind mit ihrem Oldtimer Volvo ebenfalls auf dem Weg nach Japan, gleiches Ziel, unterschiedliche Reisearten, eine inspirierende Begegnung. Nach einem Pausentag direkt am Strand geht es scharf rechts in Richtung Kaukasus mit dem Ziel Tiflis, damit steuern wir einen neuen Horizont an.
Das ländliche Georgien legt einen unglaublichen kubanischen Charme an den Tag, gemeinsame kommunistische Wurzeln spiegeln sich in vielen kleinen Details und Relikten wieder. Auch Georgiens großer Bruder, die Sowjetunion, ist allgegenwärtig, dies liegt nicht nur am enormen Wodka-Konsum. Allerdings ist die Stimmung in der Bevölkerung nicht immer pro Russland, im Gegenteil, Georgien fühlt sich unterdrückt und geht gerade auf die Straßen um zu demonstrieren.
Alte, hochmotorisierte deutsche Automarken wie Mercedes, BMW und Audi scheinen das Statussymbol der ländlichen Bevölkerung Georgiens zu sein und lassen das Herz der Straßenrambos höher schlagen. Dies passt allerdings gar nicht ins Bild der einfachen Infrastruktur auf dem Land. Überall rennen Schweine, Rinder, Hühner, Ziegen und andere Tiere um die Wette. Ochsenkarren bestellen die Felder oder schaffen das geschlagene Holz zu den Höfen. Männer sitzen vor den Häusern genehmigen sich, nach getaner Arbeit, den ein oder andern Schnaps und spielen Domino, die Frauen sitzen im Schatten und beobachten die Szenerie. Kinder und junge Menschen sind wenige zu sehen, auch hier herrscht die Landflucht, dementsprechend rottet hier alles liebevoll chaotisch vor sich hin. Es ist wieder eine Fahrt, welche all unsere Sinne inspiriert, ein Bilderbuch aus einer leicht eingestaubten Zeit. Wir lassen uns, getreu nach unserem Motto „Ohne Plan nach Japan“, einfach treiben und übergeben dem Zufall das Steuer. So entstehen einfach die schönsten Geschichten, man begegnet dem Unerwarteten, man trifft die Menschen ungeschminkt, offen und ehrlich. Am Ende der Welt, mitten in der Wildnis treffen wir auf eines der größten Bauprojekte unserer Zeit, die neue Seidenstraße wird hier von den Chinesen durch Georgien getrieben. Diese soll in baldiger Zukunft China mit Europa über ein gigantisches Schienennetz verbinden, man will offenbar mit aller Macht weg vom Schiffsverkehr.
Tagelang quälen wir uns und die Räder über einsame Schottenpisten, feiern die 4000 Kilometer im Nirgendwo, zelten auf Bergkämmen, baden im Gebirgsbach, futtern abends unsere Pasta und bewundern die Menschen, welche hier dauerhaft leben. Ruhe und Einsamkeit, gerade in unserem heimischen oft hektischen Alltag ein Genuss. Aus Schottenpisten werden Geröllpisten, die Steigungen sind enorm, die Hitze bringt uns an die Grenzen des machbaren. Der Hintern brennt, machen wir so weiter können wir uns von „Pasta-Gorillas“ zu „Pavian-Ärsche“ umtaufen, zumindest mein (Julian) Hintern hat eine ungesunde Rötung angenommen. Wir halten durch, die Technik nicht. Felix holt sich innerhalb von 2 Tagen gleich 3 Plattfüsse und führt damit die Plattfußstatistik souverän an. Nico’s Getriebe spinnt und Öl tropft aus, dies ist der weitaus größere Schock. Wir improvisieren mitten in der Pampa so gut es geht und bringen Nico wieder auf die Strecke. Wir werden sehen wie uns der Hersteller da helfen kann, nach gut 4000 Kilometern sollten eigentlich noch keine Probleme auftreten. Bis Tiflis fährt nicht nur bei Nico ein grobe Verunsicherung mit, schliesslich haben wir bis zu unserem grossen Ziel Olympia noch knapp 23.000 Kilometer zu bewältigen.
Sollte alles gutgehen sind wir in Tokio 2020 live dabei, wer noch? Ab sofort gibt es Tickets unter diesem Link für alle Sportarten, vielleicht sieht man sich dort nächstes Jahr im Juli/August.
Jetzt haben wir 3 Tage Zeit Tiflis in Ruhe zu erkunden, die Hintern können sich entspannen und wir bekommen unsere Pässe mit dem Iran-Visa. Die nächsten Abenteuer erwarten uns in Aserbaidschan, Iran und Pakistan. Wir sind gespannt, was wir in 2-3 Wochen zu berichten haben.
So, sucht Euch ein schattiges Plätzchen, legt Euch in die Hängematte und geniesst den Sommer.
Julian, Nico und Felix
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