Direkt nachdem unser erster Brasilien-Blog vor 2 Wochen online ging, stand prompt eine brasilianische Zeitung bei uns auf der Matte und interviewte uns für einen Zeitungsartikel für die Lokalzeitung von Frederico Westphalen. Der junge Reporter konnte unsere abenteuerliche Reise kaum glauben und fragte immer wieder ungläubig nach ob er die Fakten, Details, Geschichten und die lange und teilweise wilde Reiseroute von über 26.000km auch wirklich richtig verstanden hat. In solchen Situationen wird uns immer wieder bewusst, dass wir hier etwas aussergewöhnliches, etwas einzigartiges mit unserer Tour meistern, vielen Menschen würde dies wohl noch nicht einmal in ihren kühnsten Träumen einfallen.
Inzwischen befinden wir uns im südlichsten Bundesland Brasiliens und damit in „Rio Grande do Sul“ und sofort werden wir vor einige technische & natürliche Herausforderungen gestellt. Es liegt ein dichter Nebel über der Region, die Sicht beträgt kein 15m und von brasilianischer Hitze können wir nur träumen. Sandro klebt das Pech am Schuh bzw. am Pedal, keine 20km hinter Frederico Westphalen, unserem letzten Blog-Ort, bricht Sandros Pedal aus der Kurbel und lässt sich nicht mehr reparieren. Zu allem Überfluss hat Nico von dem ganzem Drama nichts mitbekommen und fährt weit voraus, erst am späten Abend treffen wir ihn wieder. Was nun? Mit nur einem Pedal fährt es sich einfach, gerade in der hügeligen und sehr einsamen Gegend, extrem schlecht. Wir improvisieren, ziehen und schieben Sandros Rad, Sandro fährt mit einem Bein, Sandro schiebt sein Rad, etc., etc. Nach circa 20 km kommen wir endlich an einer kleinen Werkstatt vorbei, dort erklären wir den Arbeitern in unserem holprigem portugiesisch die Situation, die Jungs sind super und nach wenigen Minuten hat Sandro ein selbstgebasteltes Pedal angeschweisst am Rad. Allerdings hält diese nur für circa 1 km und Sandros Leidensweg mit nur einem funktionsfähigen Pedal setzt sich fort. In der nächsten Stadt bekommt Sandro eine komplett neue Kurbel samt Zahnkranz, die Qualität lässt zwar zu wünschen übrig, aber der Mechaniker ist auf zack und seine Arbeit schaut recht gut aus und wir sind zuversichtlich damit die nächsten Tage durchzukommen, zu früh gefreut?
Nico wurde in der Zeit vom Radio interviewt und erfährt über dieses auch von unserem Standort, etliche Anrufe gehen ein und am späten Abend finden wir uns im Pfarrhaus der kleinen Gemeinde Chapada wieder. Padre Antonio Dino ist ein wunderbarer Mensch, wir werden wie die verlorenen Söhne aufgenommen und königlich bewirtet, es wird ein bunter, fröhlicher Abend mit viel Witz & Charme. Am nächsten Tag sind wir das Gesprächsthema Nr.1 in seinem Radio-Gottesdienst, später führt uns Padre Antonio Dino aus dem Dorf, er fährt mit seinem Auto laut hupend vor uns her, ein bunter, sehr humorvoller Gottesdiener mitten auf dem Lande.
Es geht also weiter mit uns dreien, Porto Alegre und damit der Atlantik ist das Ziel für die nächsten Tage. Auch in Brasilien kommen wir durch viele abgelegene Dörfer, die Menschen sind hier extrem freundlich und hilfsbereit, viele leben in einfache Häusern und in einfachsten Verhältnissen. Gerade in den abgelegenen Dörfern und ärmeren Regionen wird uns wieder klar, was für ein Glück wir haben eine solche Reise machen zu können. Viele Menschen welchen wir begegnen dürfen werden ihr Dorf, ihre Provinz nie verlassen können, trotzdem strahlen die Menschen hier oft eine unheimlich positive Lebensenergie aus.
Mit Hilfsbereitschaft und Gastfreundlichkeit sind wir auf der ganzen Reise schon reichlich gesegnet worden, aber die Brasilianer setzen einfach noch eine Portion drauf. Überall wo wir nach einer Übernachtungsmöglichkeit suchen, es regnet jeden Tag und zelten ist daher nur eine Option im Notfall, stehen uns die Türen offen. Täglich überrascht uns das Leben neu, wir werden eingeladen in Tankstellen, in Pfarrhäusern oder um in privaten Häusern zu übernachten, meistens ist das Abendessen und die heisse Dusche inklusive. Geld wird kategorisch abgelehnt, Reisenden ein Bett anzubieten gilt hier als Ehrensache. Schlechte, negative Erfahrungen in Brasilien? Nicht eine einzige!!
Der BR-386 führt uns durch eine „Maulwurfslandschaft“, Hügel rauf, Hügel runter, in unseren Pausen sind wir umringt von neugierigen Menschen und müssen für zahlreiche Fotos posieren auch das Radio wird hin und wieder extra für uns angerufen und sendet teilweise live von unserm Pausenort. Nicht nur unsere TX-1000 Räder der VSF-Fahrradmanufaktur aus Oldenburg begeistern, gerade die dazugehörige Rohloff-Schaltung fasziniert die Menschen und wir erklären, erklären und erklären das Wunderwerk mit den 14-Gängen in der Box immer wieder.
Zahlreiche Menschen im Süden Brasiliens haben deutsche Vorfahren und sprechen auch nach mehreren Generation noch ein perfektes deutsch und pflegen die Bräuche ihrer Vorfahren. Unglaublich aber wahr, hier hat sogar der stolze Bayer ein Migrationshintergrund, auch wir Deutschen hatten wilde Zeiten in unserer Heimat und sind als Auswanderer oder gar als Flüchtlinge in die ganze Welt geströmt und waren froh eine neue Bleibe gefunden zu haben. Jeder der lautstark hetzerische-rechte Parolen in Deutschland oder sonst wo auf der Welt verbreitet sollte sich, gerade in der momentanen angespannten und schwierigen Zeit in welcher hilfebedürftige Menschen nach Deutschland kommen, mit unserer eigenen Geschichte befassen.
Gelson wohnt mit seinen Söhnen Frederico und Lorenzo in einem Dorf und beherbergt uns für eine Nacht, der Metzgermeister verwöhnt und mit fleischigen Delikatessen und erzählt uns Geschichten über Land und Leute. Draussen prasselt der Regen aufs Dach und wir sind froh über eine warme, trockene Unterkunft für die Nacht. Sandros Pedal bricht wieder von der Kurbel, Gelson bringt uns zum nächsten Mechaniker, jetzt hält alles. Hoffentlich!!!
Es ist wirklich zum verrückt werden, die ganze Reise hatten wir nur sehr wenige Regentage und in Brasilien hört es dafür einfach nicht auf zu pissen. Die biblische Sintflut hat mit Sicherheit ähnlich begonnen, es ist wie die Fahrt durch einen dauerhaften Wasserfall und dieser zieht sich über mehrere Tage dahin. Falls es so weiter regnet können wir bei den olympischen Schwimmwettbewerben ohne Problem doch noch selbst teilnehmen….
Am Tag 443 und mit Kilometer 26693 erreichen wir Porto Alegre und damit den nächsten großen Teich, den Atlantik. Gute 10 Wochen haben wir von Lima/Peru und damit vom Pazifik an den brasilianischen Atlantik gebraucht und dabei über 6000km auf unseren Bikes gesessen, wieder eine einmalige Geschichte. Rauschende, tobende Wellen sind immer noch die schönste Hintergrundmusik und wir freuen uns auf die Küstenstraße am Ozean entlang.
In Porto Alegre kommen wir bei Klaus und Oma Inge unter, Klaus Tante Lena aus München hat uns diesen genialen Kontakt besorgt und wir verbringen gleich 2 Ruhetage im gemütlichem aber dennoch agilen und unterhaltsamen Porto Alegre. Endlich zeigt sich auch mal die Sonne, unsere komplette Ausrüstung und nahezu die gesamte Kleidung wurde nass und muss daher gewaschen, getrocknet und wieder verpackt werden. Klaus ist ein interessanter und äusserst vielfältiger Mensch, er zeigt uns das Nachtleben der Stadt, macht mit uns Sightseeing-Touren durch die Altstadt und scheint jeden in der Millionenmetropole persönlich zu kennen. Nachdem wir uns ausgeruht haben und jedes Familienmitglied, und da gab es einige, kennenlernen durften entscheidet sich Klaus die nächsten circa 550km bis nach Florianopolis mit uns zu radeln.
Klaus ist der vielleicht weisseste Brasilianer der Welt, damit wenigstens der Name brasilianische klingt entscheiden wir uns für einen Künstlernamen und damit für „Klausinho“! Wir 4 machen uns also auf den Weg, der Regen hat an Kraft und Ausdauer verloren und, oh Wunder, wir haben Rückenwind bei flacher Strecke. Wir strampeln auf der Autobahn, dem Highway 101, was die rot-weissen Schilder mit dem durchgestrichenen Fahrrad bedeuten wissen wir nicht, dafür reicht unser Portugiesisch leider nicht aus. Klausinho zeigt uns eine brasilianische Delikatesse nach der anderen, auch die zahlreichem all-u-can-eat Restaurants lassen unsere Bikinifigur wieder fülliger werden.
Brasilianer fragen anscheinend gerne nach dem „Warum?“ und damit nach dem Sinn unserer Reise. Also warum wir diese Reise machen? Mmh, schwierige Frage! Warum lesen Menschen Bücher und laufen Marathon oder interessieren sich für Sternbilder? Warum sammeln Leute Briefmarken oder züchten Hunde? Für uns spielt sich das Leben immer schon meistens draussen ab und zwar jetzt und hier. Vielleicht sammeln wir aber auch nur genügend Geschichten für unsere Enkelkinder, wer weiss. Ein plausible Antwort gibt es wohl nicht, wir könnte auch den Fragesteller mit einem „Warum nicht?“ zum schweigen bringen.
Klausinho fügt sich gleich am ersten Tag mit 2 Plattfüßen gut ins Team ein, Sandro und Nico legen allerdings schon wenige Tage später mit Nr. 19 bzw. 18 weiter vor. Am 447 Tag hat Nico seinen dritten und bislang schwersten Sturz, bei einer Abfahrt touchiert er Klaus, verliert die Kotrolle übers Rad und schlittert über den Asphalt. Wir verarzten die zahlreichen Schürfwunden noch auf der Strasse, Glück im Unglück es ist Gott sei Dank nicht mehr passiert und der Strassenbelag war in diesem Abschnitt eher glatt. Nico beisst die Zähne zusammen und macht für einige Tage etwas langsamer.
Direkt nachdem Sturz bekommen wir die wahrscheinlich bizarrste Übernachtungsmöglichkeit angeboten. Julian und Klaus klopfen an einer Kirche an und bekommt die Leichenhalle als Schlafplatz für unser Quartett angeboten. Der Pfarrer überreicht uns die Schlüssel mit der folgenden furztrocknen Anmerkung:
„Falls heute noch jemand das Zeitliche segnen sollte, müsst ihr halt teilen!“
Zum Leichenschmaus werden wir vom Pfarrer und seiner Gemeinde auf den „Wurstball“ in der nahen Gemeindehalle eingeladen, es wird deftig aufgetischt und eine Band spielt bayrische Blasmusik, verkehrte Welt in Brasilien. Danke und gute Nacht, die Nacht ist jedenfalls totenstill und wir schlafen wie die Engelchen. Die nächste Übernachtung in einem solchem Gebäude darf gerne noch 70 Jahre auf sich warten lassen, danke.
Neuer Tag, neue Strecke, neue Leute, neue Region, neuer Schlafplatz. Bei einer Reise mit dem Fahrrad gleicht kein Tag dem Andern, es kommt wie es kommt und meistens werden wir dabei positiv überrascht. Der finale Countdown läuft nun endgültig, 27.000km sind inzwischen Geschichte, Wahnsinn! Sind es tatsächlich nur noch 2 Wochen, nur noch knapp 1200 km bis Rio? Klar hängt auch bei uns manchmal der Haussegen schief und es fallen unüberlegte, böse Worte, aber im Grunde ist jeder von uns froh diese Reise zu dritt angegangen zu sein, Erlebnisse geteilt zu haben und nicht alleine durch die Weltgeschichte zu radeln.
Kurz vor Florianopolis wechseln wir das Bundesland und radeln in “Santa Catarina” weiter , die Sonne gewinnt nun endlich an Oberhand. Klausinho kennt viele Leute entlang der Strecke und kann so die ein oder andere tolle Übernachtungsmöglichkeit für uns abklären, die Nächte in der Natur sind noch recht frisch, daher sind wir froh über jedes kostenloses Angebot ausserhalb vom Zelt.
So, jetzt sind wir also in Florianopolis (auch Floripa genannt) angekommen und geniessen „another day in paradise“ oder auch zwei, auch hier werden wir von Klaus durch die City geführt und erkunden die atemberaubende Halbinsel mit ihren zahlreichen Lagunen und traumhaften Stränden. Hier wird aus dem zwischenzeitlichen Quartett wieder unser gewohntes Trio, danke Klaus fürs mitfahren und wir sehen uns in Deutschland wieder, Tschüss Floripa!
Jetzt steht also der letzte Abschnitt unser gemeinsamen Reise nach Rio an, den nächsten Bericht gibt es live von den Olympischen Spielen 2016, live aus dem Herzen Rio de Janeiros. Wir freuen uns sehr auf die Stadt, nach so langer Zeit auf den Rädern sehnen wir uns aber auch auf die 18 Tage Auszeit in Rio und auf „normale“ Kleidung, einen „normaleren“ Tagesablauf…auf normale Dinge eben welche uns nach der Tour erwarten, wie lange wir das aushalten? Schau mer mal!!
Wer Lust hat findet uns unter „Trio for Rio“ auch auf Facebook, dort gibt es immer wieder kleiner Zwischenberichte und Angaben zum aktuellen Standort.
Vielleicht erbarmt sich ja doch noch ein großzügiger, edler Spender und wir können die Athleten live in den olympischen Wettkampfarenen anfeuern. Tickets werden weiterhin gerne angenommen.
Momentan deutet alles auf einen „just in time“-Einlauf zum Startschuss der Spiele am 5. August hin, es bleibt also spannend die nächsten Wochen.
Mit sportlichen Grüßen,
Julian, Nico und Sandro.
Mehr Bilder gibt es in unserer Galerie.