Gleich vorweg, unsere Darmprobleme quälen uns weiterhin und lassen uns nunmehr 3 Wochen nicht mehr durchschlafen. Wir sind frustriert und die Kräfte schwinden langsam aber sicher. Es reicht, Antibiotika muss es jetzt richten. So verschreiben wir uns, gegen unsere normalen Gewohnheiten, selbst eine 5-Tageskur und hoffen voller Zuversicht weiter auf die ersehnte Besserung. So schwingen wir uns also frohen Mutes wieder auf die Räder, die letzten knapp 1200 Kilometer auf Indiens Straßen liegen vor uns – Indischer Ozean wir kommen.
Dschungel und überdimensionale Felder wechseln sich die nächsten Wochen ab, ebenso kleine Dörfer mit wenigen improvisierten Hütten und gigantische Großstädte. Indien ist ein Land der Gegensätze – ein Land der vielen Gesichter, Kontraste und der unendlichen Facetten. Als Radreisender in fremden Kulturen und fernen Ländern weißt du, dies zeigt zumindest unsere Erfahrung, grundsätzlich nur vage, was dich als Nächstes erwartet, was der Tag bringen mag oder auf was du dich einstellen musst. Aber Indien ist eine andere Nummer – wild und absolut unberechenbar, eine echte Wundertüte eben.
Ein Land der Extreme, kein Tag gleicht dem Anderen, nichts kommt, wie man es erwarten würde – Normalität ist hier ein Fremdwort. Aber was ist schon normal? Und schließlich sind wir ja auch losgezogen, um andere Kulturen mit all ihren Höhen und Tiefen kennenzulernen. Wir durchqueren die Luxusviertel der Superreichen und nur wenige Kilometer weiter leben die Menschen in Slums. Die Feldarbeit wird mit hypermodernen Maschinen erledigt, oder eben mit dem Ochsengespann und Handarbeit. Wir bestaunen top gepflegte Parkanlagen und stehen schon kurze Zeit später vor riesigen Müllhalden, in welchem Menschen mit bloßen Händen nach verwertbaren Dingen graben. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist bei der Masse an Menschen hier in Indien tagtäglich sichtbar, man spürt diese Diskrepanz förmlich. Wohin der Weg Indiens wohl führt?
Nur eine Sache scheinen hier alle Menschen gemeinsam zu haben: ihr Smartphone!
Dazu muss man wissen, dass telefonieren und im Internet surfen in Indien spottbillig ist. Quasi jeder kann sich hier – egal welcher Kaste er angehört, ob arm oder reich – ein Smartphone samt Datenvolumen leisten. Dass wir von der „Generation Selfie“, wie von Sinnen, gejagt werden, kam im vorigen Blog schon zu Sprache. Jedenfalls sind wir dem „Selfie-Wahn“ der Inder mit selbstmörderischen Überholmanövern ausgesetzt – nur, damit ein Foto von uns gemacht werden kann. Es spielen sich bizarre Szenen ab- da wenden Autos im, eh schon zähen, Verkehr mitten auf der Bundesstraße, um uns, wenige Meter später, für ein gemeinsames Bild ins Bankett zu drängen. Mopedfahrer fotografieren beim fahren und krachen beinahe in den Gegenverkehr. Wo ist da der Selbsterhaltungstrieb? Dass uns Menschentrauben innerhalb von Sekunden vor jedem Kiosk umgeben und ablichten ist in Ordnung, nervt zwar manchmal, stellt aber sonst keine Gefahr da und wir sind gerne in Kontakt mit der Bevölkerung. Aber auf der Straße? Quer durch Indien sind wir wohl für zig tausend verrenkte Hälse und Nacken verantwortlich, Touristen auf Rädern sind hier wohl eher selten zu besichtigen. Wie viele Selfies pro Tag von uns gemacht werden, wissen wir nicht, aber an die hundert Bilder werden es sein. Für Außenstehende kaum nachvollziehbar. Uns fehlt da, gerade im Straßenverkehr, inzwischen jegliches Verständnis – sich selber in Gefahr zu bringen ist das eine, aber uns blindlings einem enormen Risiko auszusetzen, muss beim besten Willen nicht toleriert werden. Indien führt übrigens die unrühmliche Todesliste „Tod durch Selfie“ weltweit an, siehe auch: https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/indien-vier-menschen-bei-selfie-versuch-ertrunken-a-1290419.html. Wirklich wundern über diesen traurigen Platz 1, darf sich hier niemand.
Auch unser Magen ist die reinste Wundertüte, geschlagene 2 Tage bleiben wir, dank Antibiotika, Durchfall frei. Am dritten Tag sitzen wir schon wieder hinter jedem zweiten indischen Busch – wir nehmen es mit Humor- was sollen wir auch machen. Mit jammern kommen wir unserem Ziel auch nicht näher. Unsere 10.000 Kilometer feiern wir so in der indischen Provinz mit einem Ochsenhirten, welcher sich verwundert zu uns gesellt und erstaunt unsere Räder inspiziert. Am Abend lassen wir es richtig krachen – es gibt trockene Nudeln – selbst Tomatensauce ist im Moment tabu. Ab 20 Uhr ist die wilde Sause dann aber auch passe und Bettruhe ist angesagt, der Durchfall zieht Energie. Nach 11 Stunden Schlaf und einer Schale Haferflocken hat uns der Straßendschungel wieder.
In der Tat geht es weiterhin durch diverse kleinere und größerer Dschungelabschnitte, es wird weiterhin vor Tigern und neuerdings auch vor Geparden gewarnt – allerdings scheinen diese schlau zu sein und halten sich von den Straßen und den Menschen fern. Für die Einheimischen sind wir eh mindestens genauso exotisch, wie jeder vierbeinige Dschungelbewohner. Da wir bei weitem nicht so schnell unterwegs sind wie die Tiger, Geparde & Co., werden wir auch schneller eingefangen und, wir hatten das Thema schon, fotografiert.
Auch die Makaken-Äffchen und die Languren finden uns sehr unterhaltsam. Was denen wohl durch den Kopf geht, wenn 2 schwitzende und nach Luft schnappende Primaten auf ihren Rädern durch ihr Hoheitsgebiet strampeln? Man weiß es nicht, immerhin haben diese kein Smartphone samt Kamera. Auch nachts bekommen wir öfters tierischen Besuch, so werden Nicos Kekse von einer dicken Ratte stibitzt und Kakerlaken und Moskitos bestimmen unseren Schlafrhythmus. Manchmal, aber nur manchmal, vermissen selbst wir die heimische Komfortzone. Wenn wir dann allerdings in der Mittagspause friedlich in der Hängematte schlummern, kann selbst die gewohnte Komfortzone in der fernen Heimat kaum mehr Luxus bieten.
Wir lassen die Megametropole Hyderabad rechts liegen und fahren auf Nebenstraßen in Richtung Chennai weiter. Solange es nicht regnet, sind selbst die Nebenstraßen in Indien absolut passabel. In regelmäßigen Abschnitten kommt es zwar zu sintflutartigen Regengüssen, aber selbst die größeren Pfützen verdampfen immer wieder erstaunlich schnell. Auch das Wetter ist also die reinste Wundertüte, aber dies kennen wir ja aus unseren Breitengraden und der restlichen Welt ebenfalls. Nerviger sind die schlammigen Abschnitte und die Schlaglöcher, welche sich gerade in den Ein- und Ausfahrten der Dörfer und Städte ansammeln.
Die Sehnsucht nach dem Ozean wird von Tag zu Tag größer, kaum zu glauben, aber wahr: Jetzt sitzen wir bereits über 10.000 Kilometer und 160 Tage auf unseren Rädern und waren noch nicht am offenen Meer. Klar waren wir am Schwarzen Meer, Marmarameer und Kaspischen Meer, allerdings sind diese allesamt Binnenmeere. Es wird definitiv Zeit für den drittgrößten Ozean der Welt, den Indischen Ozean – einem richtigen Ozean. Unser Zielort in Indien, ist die Küstenstadt Chennai, diese liegt am Golf von Bengalen, einem Teil des Indischen Ozeans.
Und plötzlich geschieht ein kleines Wunder, nach 4 Wochen ist er weg: der Durchfall. Wir können es kaum glauben und sind weitere 5 Tage skeptisch. Aber nein, er scheint wirklich die Lust an uns verloren zu haben. 4 Wochen Scheißerei, 4 Wochen Schonkost, 4 Wochen mit Magenkrämpfen auf dem Rad sind scheinbar vorüber. Endlich! Wie lange der Frieden wohl hält?
Nach 171 Tagen, 10.571 Kilometern und 581 Stunden im Sattel ist es dann soweit – wir sind am Meer. Wir haben Indien komplett durchquert: von Nordwest nach Südost – der Querschnitt einer Wundertüte ist damit erfolgreich abgeschlossen. Wir beenden dieses, leicht chaotische Kapitel namens Indien, mit einem Sprung in die Fluten. Die enorme Umwelt- und Wasserverschmutzung kann man am größten Strandabschnitt von Chennai nicht nur sehen, sondern auch riechen. Das ist uns in dem Moment aber schnurzpiepegal- was sein muss, muss sein. Mit insgesamt 2.673 Kilometern hat Indien im übrigen Platz 1 unserer bisherigen Reiseländer, was die Kilometer im Land anbelangt, erobert. Dem Iran bleibt, mit 2245 Kilometern, das Nachsehen und ein ehrenwerter zweiter Platz. Und so gibt es, neben der „Todesliste Selfie“, doch auch positive Spitzenplätze für Indien. Ja, es war anstrengend durch dieses gigantische Land zu radeln. Es war belastend die Konzentration immer bei 120% zu haben, aber es war auch eine tolle Erfahrung mit unglaublich vielen Eindrücken und Erinnerungen. Auch hier kommt wieder eine gewisse Wehmut auf, trotzdem freuen wir uns jetzt auf neue Abenteuer, auf neue Länder, auf andere Sitten und Bräuche.
Zu recht kommt die Frage auf, warum zur Hölle sind wir eigentlich, neben der Abenteuerlust und der Neugier auf Indien und seine Bewohner, beinahe bis an die Südspitze des Landes geradelt? Mmh, wir haben noch ein kleines Indien-Highlight auf dem Plan, welches wir uns die gesamte Reise bereits tierisch gefreut haben: die Andamanen und Nikobaren stehen an. Auch dies hatten wir im letzten Blog bereits verraten und nun befinden wir uns aber wirklich bald Mitten im Ozean.
Die Andamanen und Nikobaren liegen mit ihren knapp 300 Inseln in der Andamanensee, auch diese ist ein Randmeer des Indischen Ozeans. Die exotische Inselgruppe liegt auf derselben Höhe wie Chennai/Indien und Bangkok/Thailand. Wir reisen von Chennai knapp 1.400 Kilometer auf das Archipel und nach unserer Pause auf dem Inselparadies geht es die restlichen 700 Kilometer weiter bis nach Thailand – unserem Reiseland Nr. 15. Auf den Andamanen angekommen, schalten wir ein paar Gänge runter- dort stehen 14 Tage Sonne, Strand und Palmen im Vordergrund. Und das Schönste: Unsere Freundinnen kommen mit zum Inselhopping und wir können es kaum erwarten.
An dieser Stelle möchten wir uns nochmals recht herzlich bei all unseren Followern bedanken. Bei Instagram haben wir bereits die unglaubliche Zahl von 3.000 geknackt, bei Facebook stehen wir kurz davor. Ihr seid spitze! Danke auch für die zahlreichen Kommentare, die lieben Emails und Gästebucheinträge. Wir freuen uns immer von Euch zu hören, bitte seht es uns nach, dass wir nicht auf jeden Post sofort antworten können. Wir sind auf einer Abenteuerreise und, Gott sei Dank, mehr Offline wie Online.
Das Leben ist eine Wundertüte.
Eure Pasta-Gorillas,
Julian und Nico
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