Mit ausgeruhten Beinen, neuer Energie und frohen Mutes geht es von der bulgarischen Schwarzmeerküste weiter in Richtung Türkei. Bulgarien verabschiedet uns mit vielen tollen Erinnerungen, saftig grün und sehr hügelig, wir schnaufen rauf und runter, der Schweiss läuft und die Beine brennen bei jedem gewonnen Höhenmeter etwas mehr. Etwa 5 Kilometer vor der türkischen Grenze zelten wir ein letztes Mal wild auf bulgarischen und damit auf europäischen Hoheitsgebiet. Geschlagene 3x kommt in dieser Nacht die Grenzpatrouille vorbei und kontrolliert uns und unsere Pässe, bei unserem Reiseziel „Tokio“ schütteln sie alle lachend den Kopf und lassen uns weiter pennen. Vermutlich sind Grenzgänger welche von der Türkei nach Europa gelangen wollen ein grösseres Problem der europäischen Grenzpolizei wie 3 verschwitzte „Spinner“ welche in die entgegengesetzte Richtung unterwegs sind und Olympia 2020 erreichen wollen.
Am nächsten Morgen heißt es endlich „Merhaba, Türkiye“ und auch die türkischen Grenzbeamten verstehen ihren Job, gleich 3 Mal müssen wir unsere Pässe vorzeigen und unser Gepäck wird einer Routinekontrolle unterzogen bevor es auf türkischen Strassen bergauf und bergab geht.
Felix braucht jetzt viel Zucker um den Anschluss nicht vom Frühstück weg zu verlieren, Cola ist sein Diesel. Wäre Cola Diesel, so hätte er in sämtlichen Innenstädten Deutschlands ein Fahrverbot auf Lebenszeit. Immerhin sind seine Rückenschmerzen verflogen, trotzdem kämpft er jeden Tag mit sich, dem Takt und dem Gelände, schon am ersten Tag in der Türkei geht er für über 60 Kilometer „verloren“, erst am späten Nachmittag sind wir wieder ein komplettes Trio, diese Diskrepanzen schlagen auf die Stimmung.
Das Wetter zeigt sich wechselhaft, der Wind dreht im Minutentakt, Regen peitscht auf uns runter, im nächsten Moment strahlt die Sonne und es ist unangenehm schwül, die Türkei empfängt uns mit südländischem Temperament, unberechenbar und wild. Die erste Nacht auf türkischem Boden schlafen wir hinter einer Tankstelle, geduscht wird mit einem Hochdruckreiniger, ein ganz neuer Duschspass offenbart sich uns.
Gleich in den ersten Tagen schlägt uns eine enorme Gastfreundschaft entgegen, die Türken sind grossartige und enorm spendable Gastgeber. Egal ob Cay, Sesamkringel, Wasser, Eis, Datteln, Brot oder energiegebende Baklava, es vergeht kaum eine Stunde ohne eine freundliche Einladung und einem erfrischenden Gespräch mit einer sehr begeisterungsfähigen Bevölkerung. Glühende Vaterlandsliebe und viel Patriotismus scheint die Bevölkerung auch für ihr Land zu versprühen, die türkische Flagge mit dem bekannten Halbmond flattert quasi an jedem Haus und an jedem Masten in x-facher Ausführung und teilweise in galaktischen Dimensionen.
30 Kilometer vor Istanbul zelten wir auf einem Hügel, die Skyline der Millionenstadt in der Ferne gepaart mit der untergehenden Sonne ist besser wie jeder Spielfilm. Die Geräuschkulisse der zirpenden Grillen, das zwitschern der Vögel und das piepsen der Wiesenbewohner lassen die Anstrengungen des Tages schnell verfliegen und geben die natürliche Dolby Surround Anlage. Geplagt von Anstrengung, ständig steigender Temperaturen und höchster Konzentration auf den Strassenverkehr glühen tagsüber unsere Köpfe und am Abend dürfen wir dem bezaubernden Tanz der Glühwürmchen beiwohnen. Wir glühen tagsüber und die Hintern der kleinen Leuchtkäfer nachts, ein toller Gegensatz und ein kleines Wunder der Natur.
Und schwups sind wir mitten im Stadtverkehr Istanbuls. Doch die Megametropole zeigt sich erstaunlich sanft, was ist das los? Die Einfahrtstrassen in die Stadt am Bosporus scheinen wie leergefegt, irgendwas stimmt hier nicht. Die Antwort bekommen wir in einer Tee- bzw. Cay-Stube, heute ist der erste Tag des viertägigen Bayrams (Zuckerfest), die Muslime feiern das Ende des Ramadan. Geschlagene 4 Feiertage lang geht es hier und in der gesamten Türkei komplett gemütlich zu. Keine LKW’s, keine Geschäftsleute, keine Schule, einen perfekteren Zeitpunkt für das Ballungsgebiet Istanbuls hätten wir uns nicht aussuchen können, die meisten Menschen haben die Stadt verlassen und besuchen Freunde und Verwandte auf dem Land. Wir huschen auf unseren Rädern durch die Stadt, besuchen Moscheen, die Altstadt, den Bosporus, machen Fotos und Pausen ohne störende Menschenmassen. Schliesslich bringt uns die Fähre, nach einem kleinen (selbstverschuldeten) Fehlversuch, sicher über den Bosporus-Kanal und damit nach (Vorder-) Asien.
Der asiatische Teil Istanbuls zeigt sich wesentlich quirliger, überall wuseln Menschen durch die Gassen oder flanieren an der Promenade auf und ab. Picknicken scheint ein türkischer Nationalsport zu sein, nicht nur während des Bayrams. Über etliche Kilometer sitzen die Menschen auf ihren Picknickdecken, grillen, kochen Tee, machen Sport, lachen, spielen mit ihren Kjndern, angeln oder spazieren entspannt am Ufer des Marmarameeres entlang. Es sind bezaubernde Kilometer, eine unbeschreibliche Harmonie liegt in diesem Abschnitt, danke Zuckerfest, danke Türkei.
Allerdings zieht sich das Ballungsgebiet weit über 120 Kilometer bis Izmit dahin, Haus an Haus, Dorf an Dorf, Stadt an Stadt es ist jeder Winkel bebaut und besetzt, wilde Schlafplätze sind Mangelware. Ein Schotterparkplatz muss herhalten, auch hier kontrolliert uns wieder die Polizei, freundlich werden wir auf Drogensüchtige und andere Gefahren in der Gegend hingewiesen, wir bleiben trotzdem, eine gewisse Portion Risiko hat noch niemanden geschadet. Die Nacht bleibt ruhig und am nächsten Tag belohnen wir uns mit einem herzhaften Sprung ins erfrischende Marmarameer, Mittagspause in der Hängematte inbegriffen, das Leben kann so einfach sein.
Die D-100 bringt uns von Istanbul über Izmit in ruhigere Regionen der Türkei, wir haben uns entschieden durchs Landesinnere zu radeln, um mehr von Mensch und Natur mitzubekommen, die richtige Entscheidung wie sich zeigen wird. Am See „Sapanca“ finden wir den bislang schönsten Zeltplatz unserer Reise, wir können vom Zelt aus direkt ins kristallklare Wasser springen, noch nicht einmal die zahlreichen Wasserschlangen können uns diese Erfrischung madig machen.
Noch immer ist Bayram, die zahlreichen Einladungen zum essen und trinken können wir gar nicht alle annehmen, überall winken uns Menschen in ihre Gärten und Häuser. Um unser Zeitfenster nicht zu gefährden und um im Rhythmus zu bleiben, lehnen wir schweren Herzens oft ab und belassen es bei einem kleine Plausch.
Zahlreiche langgezogene Anstiege lassen uns aus allen Poren schwitzen, Steigungen von über 10 Prozent lassen die Naschereien der Bevölkerung gleich wieder verdampfen. Die winterlichen Warnschilder zieren unsere Route und sind bei den enormen Temperaturen die pure Ironie für uns. Schnee in der Türkei, passt das? Egal ob türkische Polizisten, Rennradgruppen, Gemüsehändler, andere Radreisende, Kinder, Familien, Opas und Omas entlang der D-100 gibt es wohl kaum noch Menschen ohne ein „Selfie“ mit uns, diese werden sogleich an die Verwandtschaft in Deutschland geschickt. Es ist erstaunlich wieviele Menschen Familie oder Freunde in Deutschland haben „Alemania, Alemania“ schallt es uns oft entgegen, sobald unsere Flaggen an den Rädern bemerkt werden.
Die Strecke ist jetzt zäh, teilweise kleben die Räder wie Kaugummi auf dem brennenden Asphalt, Felix bemüht sich seinen Rhythmus zu finden. Oft müssen Nico und ich bis zu einer Stunde am Tag warten, dies ist furchtbar nervig und zerrt an den Nerven. Wir kühlen runter, müssen immer die Augen offen halten damit wir Felix beim Warten nicht verpassen. Bilder und Videos gibt es oft nur von mir mit Nico oder nur von Felix, das widerspricht unserem eigenem Anspruch. Da radeln über den Tag quasi 2 unterschiedliche Teams durch die Weltgeschichte. Japan ist das gemeinsame Ziel, dies als Trio erreicht werden soll, auch dies ist unser gemeinsamer Anspruch.
Fragen wie: „Was sollen wir machen?“, „Wie kann Felix 2-3 Schippen auf sein jetziges Tempo drauflegen?“ bestimmen, leider viel zu oft, unsere Gespräche und natürlich auch die Gedanken von Felix. Felix verfolgt das schlechte Gewissen, da er den Anspruch hat mit uns zu fahren und gemeinsam die Abenteuer erleben möchte. 2 Tage Übelkeit und die vergangen Rückenschmerzen waren zusätzliche Hürden dieses Ziel zu erreichen. Es muss eine Lösung gefunden werden, hier sind die Strassen wirklich noch gut ausgebaut, die Anstiege moderat, die Winde passabel. Wie wird das erst bei sandigen Strassen über hunderte Kilometer, bei täglich mehreren tausend Höhenmetern? Es ist uns allen dreien ein Rätsel, da brodelt leider eine leicht explosive Suppe vor sich hin. Gerne würden wir einfach gegen 16 Uhr unsere Zelte aufschlagen, die Wäsche auswaschen, baden, relaxen, den nächsten Tag planen oder einfach nur die Beine hochlegen. Oft kommen wir allerdings erst gegen 18/19 Uhr am Zeltplatz an, da fehlt der „Entspannungspuffer“. Versteht uns nicht falsch, die Grundharmonie ist wunderbar, allerdings scheinen die psychischen und physischen Eigenschaften zwischen uns dreien immer weiter auseinander zu driften. 6 Wochen sind wir jetzt unterwegs, die richtigen Abenteuer kommen vermutlich erst noch, da sind wir uns alle einig. Wir müssen unsere Grenzen noch oft verschieben, über uns hinauswachsen und zu „Mentalitätsmonstern“ werden, das Ziel „Japan“ haben wir uns gemeinsam ausgesucht, jetzt gilt es dieses auch gemeinsam zu erreichen.
In der türkischen Kleinstadt Gerede circa 140 Kilometer nördlich von Ankara legen wir einen Pausentag ein, gerade einmal 15.000 Einwohner hat das Städtchen und unglaubliche 35 Moscheen. Pünktlich um 4.25 Uhr und damit mitten in der Nacht, rufen 35 verschiedene Imame ihre Gläubiger zum Gebet auf, die Nacht ist damit natürlich jäh zerrissen. Da loben wir uns jeden Zeltplatz in der Natur mit quakenden Fröschen als Geräuschkulisse.
Wir fahren jetzt auf über 1000m, die Landschaft ist traumhaft schön und könnte auch in den Alpen liegen, Störche begleiten uns, die Häuser werden einfacher, die Menschen schuften hart auf den Feldern und die Cay-Hütten werden provisorischer, die Türkei verändert sich. Fallen wir auf unter 700m offenbart sich uns eine trockene Landschaft, Obsthändler und einfache Restaurants geben uns Kraftfutter für den Tag. Das Essen in der ländlichen Türkei ist unbeschreiblich lecker, es duftet und wird mit viel Erfahrung zubereitet, wir können uns vor lauter Leckereien kaum entscheiden. Konstante Preise sind in der Türkei zumindest nicht zu erwarten, mal zahlen wir 80 Cent für ein Mittagessen, mal die Hälfte, ein weiteres Mal das dreifache, Inflation lässt grüßen.
In der Region um Tosya machen wir unsere 3000 Kilometer voll und staunen nicht schlecht, Reisfelder bestimmen das Bild der Region über Tage hinweg, damit hätten wir nicht gerechnet. Schildkröten und Frösche scheinen sich hier wie im Paradies zu fühlen, ganz zur Freude der unzähligen Störche.
An einer Tankstelle lernen wir Fatma kennen, Fatma hat 20 Jahre (1970-1990) auf Einladung der BRD in Deutschland gelebt und gearbeitet, sie schwärmt von der SPD, Willy Brandt und Helmut Schmidt. Die 77 jährige betreibt seit 1990 eine Tankstelle auf dem Land und erzählt uns aus dem Nähkästchen welche bürokratischen Hürden ihr als kleine Frau in den Weg gelegt werden, eine strake, ehrliche Frau.
Die letzte Nacht vor Samsun zelten wir an einem braunen leicht muffeligen Bach. Wir springen trotzdem rein und stellen am nächsten Tag etwas angewidert fest, dass dieser Fluss wohl voller Scheisse war. Die Kläranlage der nahen 40.000 Einwohner Stadt Havza scheint zumindest nicht in Betrieb zu sein und der Fluss hat wohl nur noch wenig Leben in sich. Nun gut, jetzt sind wir mit allen (Ab-) Wassern gewaschen und um eine Erfahrung reicher.
Drei Pässe mit 900m, 780m und 670m wollen noch bezwungen werden, danach sind wir wieder an der Schwarzmeerküste und erreichen das Städtchen Samsun. In Samsun legen wir einen Ruhetag ein, bringen unseren Blog auf Vordermann und flanieren wie normale Touristen es wohl auch tun durch die Gassen.
Wir liegen weiter im groben Zeitplan, 14 Tage haben wir noch bei circa 950 Kilometern und circa 12.000 Höhenmetern bis Tiflis.
Gemeinsam schaffen wir es unsere Ziele zu erreichen, da sind wir uns weiterhin sicher. Dennoch beliebt es spannend auf dem Weg noch Tokio.
Eure Pasta-Gorillas
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